Die Nahrungsmittelknappheit in der Ukraine erfordert dringende humanitäre Maßnahmen. Versuche, die Ambitionen der EU in Bezug auf nachhaltige Lebensmittel zu untergraben, werden landwirtschaftliche Erträge verringern und uns in Zukunft noch verwundbarer machen. Hier erfahrt ihr, was wir tun müssen, um die Ernährungssicherheit in der Ukraine zu sichern.
Putins Überfall auf die Ukraine verursacht enorme Probleme in der Weltwirtschaft. Europa ist in den letzten Jahrzehnten massiv von russischem Erdgas und anderen fossilen Brennstoffen abhängig geworden. Deshalb steht das Thema Energie zurecht im Mittelpunkt der jetzigen europäischen Debatte. Im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine sollten wir unsere Aufmerksamkeit jedoch auf einen weiteren Faktor lenken: Lebensmittel.
Die Ukrainer:innen, die aufgrund von Putins Krieg direkt von Nahrungsmittelknappheit betroffen sind, benötigen dringend humanitäre Unterstützung. Denn der Konflikt beeinträchtigt direkt die Verfügbarkeit von Nahrungsmitteln, insbesondere in den Städten, die von der russischen Armee belagert sind. Die Europäische Union und die internationale Gemeinschaft, insbesondere das Welternährungsprogramm und die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO), bemühen sich, die Ernährungssicherheit in der Ukraine zu gewährleisten und dafür zu sorgen, dass alle Menschen Zugang zu wichtigen Nahrungsmitteln haben.
Nahrungsmittelknappheit in der Ukraine – das sind die erforderlichen humanitären Maßnahmen:
- Erstens sollte die EU ihre humanitäre Hilfe für die ukrainische Bevölkerung aufstocken, um kurzfristig die Ernährungssicherheit in der Ukraine sowie für die Flüchtlinge in der EU zu gewährleisten. Außerdem sollte sie einen Beitrag zum Krisenreaktionsplan der FAO für die Ukraine leisten. Die FAO bittet um Mittel in Höhe von 50 Mio. USD zur Unterstützung von 240.000 bedürftigen Menschen, die in der ländlichen Ukraine leben. Bislang wurden nur 9 % (4,6 Mio. USD) bereitgestellt. Aufgrund der katastrophalen humanitären Lage in der Ukraine befinden sich bereits über drei Millionen Flüchtlinge in Europa. Es gibt keine Zeit zu verlieren. Europa muss jetzt handeln!
- Gleichermaßen sollten die Europäische Kommission und die EU-Mitgliedstaaten ihre Beiträge zum Welternährungsprogramm erhöhen, indem sie die Solidaritäts- und Notfallreserve des EU-Haushalts nutzen. Dies könnte zusätzliche 420 Millionen Euro ausmachen, was bei den derzeitigen Exportraten etwa einer Million Tonne Weizen und ebenso vielen Broten entspricht, die für Menschen in Not gebacken werden.
- Die EU muss die Ernährungssicherheit in Drittländern mit hohen Importen von Grundnahrungsmitteln schützen. Bei dem derzeitigen Preisanstieg könnten Länder, die massiv auf den Import von Grundnahrungsmitteln angewiesen sind, nicht mehr in der Lage sein, ihre Importe zu finanzieren. Das wäre eine Katastrophe für die betroffene Bevölkerung. Exportländer, allen voran die EU-Mitgliedstaaten, müssen alles tun, um diese Situation zu vermeiden.
Globale Ernährungssicherheit – was tragen die Ukraine, Russland und Belarus zum globalen Lebensmittelhandel bei?
Das Problem macht jedoch nicht an den Grenzen der Ukraine halt. Sowohl die Ukraine als auch Russland sind wichtige Akteure im globalen Handel mit Lebensmitteln. Auf sie entfallen etwa 30 % des weltweiten Weizenhandels. Die Ukraine allein beliefert 15 % des weltweiten Maismarktes. Russland ist andererseits ein wichtiger Exporteur von synthetischen Stickstoffdüngern und deren Bestandteilen. Das Gleiche gilt für Belarus: es exportier Kalidünger, der in der konventionellen Landwirtschaft großflächig zum Einsatz kommt.
Durch den anhaltenden Krieg sind die meisten dieser Exporte nun zusammengebrochen. Das hat zu einem starken Anstieg der Lebensmittelpreise und Produktionskosten geführt. Die Lage auf den Agrarmärkten wird immer angespannter. Schon vor der Invasion hatte der Lebensmittelpreisindex der FAO seinen höchsten Stand der letzten zehn Jahre erreicht.
Welche Länder sind von Importen aus Russland und der Ukraine abhängig?
Vor allem Länder in Afrika und im Nahen Osten sind für ihre nationale Ernährungssicherheit in hohem Maße auf Importen aus Russland oder der Ukraine angewiesen. Ägypten beispielsweise bezieht 90 % seiner Weizenimporte aus der Ukraine und Russland, insbesondere zum Backen von Brot. Zurzeit liegt der Weizenpreis bei 400 € pro Tonne. Das sind 100 € pro Tonne mehr als während der Lebensmittelkrise im Jahr 2008.
Länder wie Ägypten stehen damit vor einem riesigen Problem der Bezahlbarkeit. Einfach ausgedrückt: Wenn die Preise weiter steigen, ist Ägypten möglicherweise nicht mehr in der Lage, die Lebensmittelimporte zu bezahlen, auf die es angewiesen ist. Und das gefährdet die Ernährungssicherheit der Menschen.
Die EU muss dafür sorgen, dass der Krieg in der Ukraine die Ernährungsunsicherheit in diesen Ländern nicht noch verschlimmert.
Nahrungsmittelknappheit in der EU – müssen wir Engpässe befürchten?
In der Europäischen Union stellt sich die Situation etwas anders dar. Die EU ist ein Nettoexporteur von Agrar- und Ernährungsprodukten. Das bedeutet, dass die EU mehr Lebensmittel exportieren als sie importieren. Die gute Nachricht dabei ist, dass wir selbst keine Nahrungsmittelknappheit befürchten müssen. Aber der Angriff Russlands auf die Ukraine hat bereits zu einem starken Kostenanstieg in der Lebensmittelproduktion geführt. Wie in allen anderen Produktionszweigen auch, führt der Anstieg der Energiepreise in der Landwirtschaft ebenfalls zu einer Verteuerung der fossilen Brennstoffe.
30 % der synthetischen Stickstoffdünger (und ihrer Inhaltsstoffe) in der EU stammen aus Russland. 27 % der Kalidünger in der EU kommen aus Belarus. Die Preise für diese Rohstoffe steigen rapide an. Auch die Viehzüchter bleiben davon nicht verschont, da die Situation bei den Futtermitteln ähnlich aussieht.
Steigende Lebensmittelproduktionskosten und höhere Weltmarktpreise können zu höheren Preisen in unseren Supermärkten führen. Dies könnte für arme Haushalte verheerdene Folgen haben, zumal auch die Energiepreise noch weiter steigen werden.
Auch wenn eine Lebensmittelknappheit in der EU unwahrscheinlich ist, wird sich der Krieg in der Ukraine auf unsere Lebensmittelpreise auswirken. Wir werden kurzfristige Maßnahmen brauchen, um uns vor diesen Auswirkungen zu schützen. Aber Europa darf seine langfristige Strategie dabei nicht aus den Augen verlieren. Wir brauchen einen Plan, um ähnliche Krisen in der Zukunft zu vermeiden.
Kurzfristige Maßnahmen zur Gewährleistung der Ernährungssicherheit in der EU müssen in zweierlei Hinsicht getroffen werden. Wir brauchen konkrete humanitäre Maßnahmen, um den Menschen in der Ukraine zu helfen. Gleichzeitig müssen wir die Ernährungssicherheit in der EU stärken, um gegen künftige Krisen besser gewappnet zu sein. Hier findet ihr unsere Vorschläge für die Ernährungssicherheit in der EU.
Lebensmittelkrise in Europa – wie können wir die Ernährungssicherheit in der EU gewähren?
Zwei Jahre nachdem COVID die Verwundbarkeit unseres globalen Ernährungssystems aufgezeigt hat, wirft Putins Krieg in der Ukraine wichtige Fragen über die Ernährungssicherheit in der EU auf. Hier sind unsere Vorschläge, wie die Ernährungssicherheit in Europa verbessert werden kann:
- Die EU sollte alles tun, um eine mögliche Versorgungskrise zu vermeiden. Die Europäische Kommission sollte alle auf EU-Ebene verfügbaren Vorräte bewerten und prüfen, wie diese mobilisiert werden können, um Probleme der Versorgung und Bezahlbarkeit zu lindern – insbesondere in Drittländern.
- Wir müssen der Spekulation auf den Agrarrohstoffmärkten Einhalt gebieten, um sicherzustellen, dass gefährdete Länder weiterhin Zugang zu den für ihre Bevölkerung notwendigen Nahrungsmitteln haben. Marktspekulationen, Manipulationen und der Handel mit Nahrungsmitteln können die Großhandelspreise künstlich in die Höhe treiben und zu Marktvolatilität führen.
- Bestimmte Praktiken wie Leerverkäufe oder Hochfrequenzhandel mit Nahrungsmitteln, die zu Marktmanipulation, Verdrängungspreisen und Gewinnstreben auf Kosten der Bedürftigen führen können, sollten verboten werden. Lebensmittel müssen zu allererst bei Menschen ankommen.
- Wir sollten weniger Futtermittel für Tiere produzieren. 60 % der EU-Getreideproduktion sind für Tierfutter bestimmt! Es ist an der Zeit, endlich eine ehrgeizige Eiweißstrategie umzusetzen, die sich vor allem auf Leguminosen konzentriert. So könnten ausreichend einheimische Futtermittel produziert und durch die damit einhergehende Stickstoffbindung der Einsatz von Düngemitteln reduziert oder sogar ganz ersetzt werden.
- Die Kommission sollte die Verwendung essbarer Kulturpflanzen für die Agrotreibstoffproduktion so schnell wie möglich für mindestens zwei Jahre vorübergehend stoppen. Im Jahr 2021 produzierte die EU 4 950 Millionen Liter Bioethanol aus Pflanzen und 12,33 Millionen Liter Biodiesel aus Pflanzenölen. Dies entspricht 11 Millionen Tonnen Getreide und 8,6 Millionen Tonnen Pflanzenöl, die stattdessen für den menschlichen und tierischen Verzehr verwendet werden könnten. Wie können wir hinnehmen, dass solche Mengen an essbaren Pflanzen nicht an Bedürftige gehen, sondern die Autos einiger weniger Wohlhabender betanken?
- Die EU sollte dringend etwas gegen die Lebensmittelverschwendung unternehmen, denn noch immer werden in der EU jedes Jahr 88 Millionen Tonnen Lebensmittel verschwendet. Dies würde sich unmittelbar auf die Ernährungssicherheit auswirken!
Bei all diesen Forderungen ist immer noch eine langfristige Strategie erforderlich, um unser globales Lebensmittelsystem nachhaltig zu gestalten.
Der Green Deal und die Farm-to-Fork-Strategie müssen unser langfristiger Kompass für die Ernährungssicherheit in der EU bleiben
Die derzeitigen Praktiken der konventionellen Landwirtschaft haben dazu geführt, dass wir von gewissen kritischen Ressourcen für unsere Lebensmittelproduktion abhängig geworden sind: Düngemittel, Pestizide und Futtermittel. Ein großer Teil der von uns angebauten Pflanzen (60 %) wird nicht für die Ernährung der Menschen, sondern für die Viehzucht in Europa angebaut. Ganz zu schweigen von unserer Abhängigkeit von externen Märkten, um unsere Exporte zu verkaufen.
Die jetzige Situation wirft ein grelles Licht auf die Unsinnigkeit dieses Systems: Während es aufgrund des Krieges in der Ukraine weltweit zu einer Verknappung von Getreide kommt, verfüttern wir unser Getreide weiter an Nutztiere. Vor allem, wenn in anderen Teilen der Welt aufgrund des Krieges in der Ukraine Nahrungsmittelknappheit herrscht.
Gleichzeitig führt der übermäßige Einsatz von synthetischen Pestiziden zur Förderung immer größerer Monokulturen zu einem Massensterben von Insekten. Wir brauchen diese Insekten zur Bestäubung unserer Nutzpflanzen und zum Schutz unserer Böden, die unsere Nahrungsmittelsysteme tragen. Wenn diese Ökosysteme weiterhin zerstört werden, sinken auch die Ernteerträge.
Nach Angaben des IPCC könnte bis zum Jahr 2100 ein Drittel der landwirtschaftlichen Nutzfläche aufgrund der Umweltzerstörung nicht mehr für den Anbau geeignet sein. Die Ziele der Farm-to-Fork-Strategie, den Einsatz dieser synthetischen Stoffe zu reduzieren, sind daher für unsere Ernährungssicherheit in nächster Zukunft besonders wichtig. Die Wissenschaft zeigt, dass die Verringerung des Pestizideinsatzes langfristig keine negativen Auswirkungen auf die Ernteerträge hat.
Wir brauchen den Green Deal für eine nachhaltige Zukunft
Umso wichtiger ist es, daran zu erinnern, dass das zentrale Ziel dieser Strategie und des Green Deal im Allgemeinen darin besteht, den Klimawandel und den Verlust der biologischen Vielfalt zu bekämpfen. Diese beiden Phänomene stellen eine ernsthafte Bedrohung für unsere langfristige Ernährungssicherheit dar.
Der IPCC-Bericht, der genau am Tag von Putins Überfall auf die Ukraine veröffentlicht wurde, zeigt auf, dass die landwirtschaftliche Produktivität aufgrund einer zunehmenden Verschlechterung der Umweltbedingungen abnimmt. Auch die Erhaltung gesunder Ökosysteme ist somit von fundamentaler Bedeutung, denn sie sind entscheidend für die Widerstandsfähigkeit menschlicher Gesellschaften gegenüber Umweltschocks. Daher ist der Kampf für Ernährungssouveränität auch ein Kampf gegen den Klimawandel und gegen den Verlust der biologischen Vielfalt.
Ein Angriff auf die Natur ist ein Angriff auf die Ernährungssicherheit
Wir erleben jetzt einen koordinierten Angriff der Agrarindustrie auf die nachhaltige Lebensmittelpolitik des Green Deal mit der Begründung, dass die Lebensmittelsicherheit gefährdet sei. Die Europäische Kommission hat bereits das Gesetz zur Wiederherstellung der Natur und die Reform der Verordnung über Pestizide verschoben. Und die französische EU-Ratspräsidentschaft hat kürzlich angekündigt, dass sie die Farm to Fork-Strategie aussetzen wird.
Die Wissenschaft hat bewiesen, dass der Status quo unhaltbar ist, da er unsere mittel- und langfristige Ernährungssicherheit kurzfristigen Gewinnen wie der Fütterung von Nutztieren und der Herstellung von Agrokraftstoffen opfert. Diejenigen, die anders argumentieren, lassen diesen grundlegenden Faktor völlig außer Acht.
Wir brauchen sofortige humanitäre Maßnahmen, um die Nahrungsmittelknappheit in der Ukraine zu bekämpfen. Gleichzeitig müssen wir sicherstellen, dass die weltweite Lebensmittelkrise nicht zu Lasten der Menschen geht, insbesondere in Entwicklungsländern. Das steht nicht im Widerspruch zu den Zielen eines nachhaltigeren Lebensmittelsystems im Rahmen des Green Deal. Die Angriffe gegen die Farm-to-Fork-Strategie stellen hingegen eine ernsthafte Bedrohung für unsere künftige Ernährungssicherheit dar.