Die Europäische Union verhandelt derzeit über ein neues Gesetz zur Rettung der Natur, in der Sprache der EU: “Gesetz zur Wiederherstellung der Natur”. Dieses Gesetz ist längst überfällig, denn der Bestand und die Vielfalt wild lebender Arten in der EU schrumpft in einem alarmierenden Tempo.
Doch unsere Wirtschaft, insbesondere die Nahrungsmittelproduktion, braucht eine gesunde Natur. Unsere Abgeordneten Jutta Paulus und Anna Deparnay-Grunenberg erklären, wie ein starkes EU-Gesetz dazu beitragen kann, unsere Natur zu schützen und wiederzubeleben.
Eines der Ziele des globalen Abkommens über die biologische Vielfalt besteht darin, bis 2030 die Wiederherstellung von mindestens 30 Prozent der geschädigten Ökosysteme einzuleiten oder abzuschließen. Jetzt müssen wir loslegen – in unserem eigenen Interesse und zur Erfüllung unserer globalen Verpflichtungen!
Warum brauchen wir die Natur?
Gesunde Ökosysteme sind genauso wichtig wie ein stabiles Klima. Sie liefern uns Luft zum Atmen, Nahrung zum Essen und Wasser zum Trinken. Sie nehmen Kohlenstoff auf und speichern ihn. Intakte Lebensräume kühlen das Klima und helfen uns, Naturkatastrophen wie Brände, Überschwemmungen und Dürren zu bewältigen.
Der Wirtschaftswissenschaftler Partha Dasgupta bezeichnet die Natur als unser wertvollstes Gut. Wenn wir mit diesem Gut schlecht umgehen, gefährden wir unsere Wirtschaft und unseren Wohlstand.
Der beklagenswerte Zustand unserer Natur ist größtenteils das Ergebnis menschlichen Handelns. Mit industrieller Landwirtschaft, Forstwirtschaft und Fischerei zerstören wir unsere Lebensgrundlagen. Doch wenn wir unsere Praktiken ändern und der Natur wieder mehr Raum geben, können sich unsere Ökosysteme wieder erholen. Wir können dem menschengemachten Artenschwund mit einer menschengemachten Rettung der Natur begegnen!
Was plant die EU, um die Natur zurückzugewinnen?
Laut EU-Kommission sollen bis 2030 auf mindestens 20 Prozent der Land- und Meeresfläche der EU sogenannte “Wiederherstellungsmaßnahmen” durchgeführt werden. Diese Maßnahmen sollen bis 2050 auf alle sanierungsbedürftigen Ökosysteme ausgedehnt werden.
Die EU-Regierungen sollen außerdem dazu verpflichtet werden, sich besser um das EU-Netz prioritärer Lebensräume (auch “natürliche Lebensräume von gemeinschaftlichem Interesse” genannt) zu kümmern. Diese Lebensräume sind bereits in bestehenden EU-Naturschutzgesetzen (z. B. der Habitat-Richtlinie der EU) definiert. An Land umfassen sie etwa 24 Prozent der Gesamtfläche der EU. Für diese Lebensräume haben wir Informationen und Beobachtungssysteme, die uns Auskunft darüber geben, wie es um sie bestellt ist.
Trotzdem befanden sich zwischen 2013 und 2018 nur etwa 15 Prozent unserer wichtigen Lebensräume in einem “günstigen Erhaltungszustand“. Ein “günstiger Erhaltungszustand” bedeutet, dass sie eine stabile Fläche einnehmen und bestimmte Strukturen umfassen, so dass charakteristische Arten in ihnen vorkommen können.
Immer weniger Raum für wildlebende Arten – was geschieht mit ihren Lebensräumen?
Der Grund für das Aussterben wild lebender Pflanzen- und Tierarten ist die Zerstörung ihrer Lebensräume, auch “Habitate” genannt. Die EU teilt die wichtigsten Lebensräume in neun Kategorien ein und verpflichtet ihre Mitgliedstaaten, alle sechs Jahre über deren Zustand zu berichten. Die letzten Berichte beziehen sich auf den Zeitraum 2013 bis 2018 und zeigen, dass 81 Prozent der Lebensräume in Europa in einem “schlechten oder sehr schlechten Erhaltungszustand” verkehren. Am schlimmsten betroffen sind Dünen sowie Moore, Sümpfe und Flachmoore. Auch Lebensräume, die für Bestäuber wichtig sind (vor allem Grasland), befinden sich in einem schlechten Zustand. Wo Verbesserungen beobachtet wurden, gehen sie fast immer auf Renaturierungsmaßnahmen zurück.
Nach Angaben der Europäischen Umweltagentur müssen mindestens 11 000 km2 Lebensräume neu erschaffen und an die bestehenden Lebensräume angegliedert werden, um die langfristige Funktionsfähigkeit der einzelnen Lebensraumtypen zu gewährleisten. Darüber hinaus muss die überwiegende Mehrheit der bestehenden Habitatgebiete in einen günstigen Zustand versetzt werden. Wälder und Meeresökosysteme erfordern die größten Anstrengungen im Hinblick auf die Größe der Gebiete, die wiederhergestellt oder verbessert werden müssen.
Der EU-Vorschlag zur “Wiederherstellung der Natur” – was steht drin?
Nach dem Gesetzesvorschlag müssen alle EU-Länder Anstrengungen unternehmen, um die wichtigsten Lebensräume in einen “günstigen Erhaltungszustand” zu versetzen. Sie müssen bis 2030, 2040 und 2050 bestimmte Ziele erreichen, um diese Habitate zu verbessern und zu erweitern.
Ein Weg, um dies zu erreichen, ist die Einrichtung und Verwaltung von Schutzgebieten. Das Natura-2000-Netz der EU umfasst derzeit mehr als 18 Prozent der Landfläche und 9 Prozent der Gewässer der EU. An Land deckt das Netz jedoch nur etwa ein Drittel der prioritären Lebensräume ab. Außerdem gibt es nationale und regionale Schutzgebiete, so dass insgesamt 26 Prozent der EU-Landfläche und 12 Prozent der EU-Gewässer gesetzlich unter Schutz stehen. Bis 2030 sollen es jeweils 30 Prozent werden.
Darüber hinaus müssen die EU-Regierungen der Natur auch in solchen Gebieten mehr Raum geben, die in den bestehenden Naturschutzgesetzen nicht beschrieben sind, und für die wir noch keine Methoden haben, um ihren Zustand detailliert zu beurteilen. Diese Gebiete umfassen 76 Prozent der terrestrischen Ökosysteme in der EU, darunter vor allem Wälder und landwirtschaftliche Flächen, aber auch städtische Ökosysteme.
In den Wäldern müssen die Regierungen dafür sorgen, dass mehr Totholz für die darauf angewiesenen Arten zur Verfügung steht. Sie müssen die Voraussetzungen dafür schaffen, dass sich Waldvögel wieder ansiedeln können und von der Bewirtschaftung mittels “Kahlschlag und Aufforstung” abrücken, so dass sich unsere Wälder aus Bäumen unterschiedlichen Alters zusammensetzen.
In landwirtschaftlich genutzten Gebieten müssen die Regierungen für mehr “vielfältige Landschaftselemente” sorgen, wie zum Beispiel Bäume, Hecken, Blühstreifen, Feldränder, kleine Teiche, Trockenmauern und brachliegende Flächen. Sie müssen sich dafür einsetzen, dass Vögel und Schmetterlinge in diese Gebiete zurückkehren und entwässerte Moorgebiete wieder vernässen.
Schließlich müssen die EU-Länder die Flüsse von Hindernissen befreien, so dass sie wieder ungehindert fließen können. Sie müssen für mehr Bestäuber sorgen und die Fläche der städtischen Grünflächen wie Parks, Gärten und Bauernhöfe vergrößern.
Wir brauchen sechs Verbesserungen im neuen EU-Gesetz
Das vorgeschlagene Gesetz könnte ein Wendepunkt für unsere Natur sein. Doch es muss nachgeschärft werden, damit es einen echten Wandel bewirken kann, und zwar in sechs Punkten:
1. Wiedervernässung unserer Moore
Nach dem Gesetzentwurf würde die EU entwässerte Moorgebiete nur dann wiederherstellen, wenn sie heute einer landwirtschaftlichen Nutzung unterliegen. Entwässerte Moore müssen aber unabhängig von ihrer heutigen Nutzung wieder vernässt werden, mit Ausnahme von Flächen, auf denen Menschen wohnen. Moore beherbergen seltene Arten und sind großartige Kohlenstoffsenken – wenn sie gesund sind. Feuchte Torfgebiete tragen dazu bei, den Wasserkreislauf zu stabilisieren und Extremwetter-Ereignisse wie Überschwemmungen abzufedern. In der EU wurde jedoch die Hälfte aller Moore entwässert und damit zu Kohlenstoffquellen gemacht. Jetzt müssen wir die Entwässerungsgräben wieder zuschütten und den Wasserpegel anheben, ohne die Moore dabei unbedingt aus der Nutzung zu nehmen. Bis 2030 sollten 30 Prozent der Moore in der EU wiedervernässt werden.
2. Frei fließende Flüsse
Der Gesetzentwurf schlägt vor, Barrieren in Flüssen zu beseitigen, ohne jedoch zu bestimmen, wie viele Flusskilometer wieder in einen frei fließenden Zustand versetzt werden sollen. Die europäischen Flüsse sind die am stärksten zerstückelten Flüsse der Welt. Das Gesetz sollte die EU-Regierungen dazu verpflichten, bis 2030 mindestens 15 Prozent der Flüsse ihrer Länder – insgesamt 178.000 km – wieder frei fließen zu lassen.
3. Mehr Natur auf unseren Feldern
Der Entwurf zielt darauf ab, mehr biologische Vielfalt in unsere landwirtschaftlich genutzten Flächen zu bringen, legt aber nicht fest, in welchem Umfang und bis wann. Dies ist jedoch zu wichtig, als dass man es dem guten Willen von Regierungen und Landwirten überlassen kann.
Landschaftselemente wie Bäume, Blühstreifen, Teiche und Hecken bieten Insekten, Vögeln und anderen Tieren Nahrung, Schutz und Brutplätze. Sie sichern oder erhöhen sogar die Produktivität der landwirtschaftlichen Flächen, indem sie wertvolle ökologische “Dienstleistungen” wie Bestäubung, Schädlingsbekämpfung, Boden- und Wasserschutz erbringen. Das neue Gesetz sollte vorschreiben, dass bis 2030 mindestens 10 Prozent eines jeden landwirtschaftlichen Betriebs der Natur dienen müssen.
4. Gesunde Meeresökosysteme
Wir müssen dringend unsere marinen Ökosysteme revitalisieren. Der wichtigste Weg dazu besteht darin, sie in Ruhe zu lassen. Doch wenn in der EU eine Regierung versucht, Schutzgebiete einzurichten, mischt sich oft eine andere ein, um diese Entscheidung zu blockieren oder zu verwässern. Dies führt allzu oft dazu, dass keine wirklichen Schutzmaßnahmen getroffen werden. Um diese Blockade zu überwinden, sollte die Europäische Kommission intervenieren können, damit Regierungen, die die Fauna und Flora der Meere schützen wollen, dies auch tun können.
Außerdem sollte der Geltungsbereich des neuen Gesetzes auf die Lebensräume von Fischarten ausgeweitet werden, die sich in einem kritischen Zustand befinden, wie z. B. der Europäische Aal, sowie auf Arten, die auf der Roten Liste der IUCN als gefährdet eingestuft sind.
5. Mehr Grün und Blau in unseren Städten
Städtische Gebiete beanspruchen mehr als ein Fünftel der Landfläche der EU, und dort leben die meisten Europäer. Das neue Gesetz sollte die Regierungen dazu verpflichten, in unseren Städten mehr Grünflächen zu schaffen sowie mehr ‘blaue Flächen’, also offene Bäche, Flüsse, Teiche und Seen. Die EU-Regierungen sollten bis 2040 mindestens 10 Prozent, und bis 2050 mindestens 15 Prozent, der städtischen Flächen als grüne und blaue Flächen zur Verfügung stellen. Die meisten dieser Flächen sollten gesetzlich geschützt werden.
6. Gesundung unserer Wälder
Die allermeisten Wälder in der EU sind in einem schlechten Zustand, und ein großer Teil liegt außerhalb von Schutzgebieten. Die biologische Vielfalt und Anpassungsfähigkeit an den Klimawandel müssen sowohl in bewirtschafteten als auch unbewirtschafteten Wäldern erhöht werden. Um dies zu erreichen, sollte das Gesetz zur Rettung der Natur dazu beitragen, die Bewirtschaftung mittels Kahlschlag und Aufforstung auf ein Minimum zu reduzieren und eine ökologische Bewirtschaftung zu fördern. Zusätzlich zu den vorgeschlagenen Verbesserungen sollten die EU-Länder dazu verpflichtet werden, die genetische Vielfalt der Bäume und den Reichtum der im Wald lebenden Arten zu erhöhen. Sie sollten auch die Fähigkeit der Wälder verbessern, ein Mikroklima mit niedrigeren Temperaturen als außerhalb des Waldes aufrechtzuerhalten, was die Funktionalität der Waldökosysteme erhöhen kann.
Die Wiederherstellung der Natur ist eine Investition in unsere Zukunft
Geld, das für die Natur ausgegeben wird, ist eine Investition und kein Kostenfaktor. Nach Angaben der Europäischen Kommission erbringt jeder in die Wiederherstellung der Natur investierte Euro eine Rendite von 8 bis 38 Euro – ein Nutzen, der sich aus den zahlreichen Leistungen gesunder Ökosysteme ergibt, wie z. B. der Bestäubung von landwirtschaftlichen Nutzpflanzen.Besonders positiv wirkt sich die Wiederherstellung der Natur auf diejenigen aus, deren Lebensunterhalt direkt von gesunden Ökosystemen abhängig ist, wie etwa Landwirt*innen, Forstwirt*innen und Fischer*innen. Wo marine Lebensräume wirksam geschützt werden, erholen sich die Fischbestände schnell, was der Fischerei und der Aquakultur zugutekommt. Gesunde Wälder widerstehen Dürren und Waldbränden besser, und eine große Zahl und Vielfalt an Bestäubern ist vorteilhaft für die Landwirtschaft.
Die Rettung der Natur duldet keinen Aufschub
Leider haben sich einige EU-Politiker dazu entschieden, die Warnungen der Wissenschaft zu ignorieren und das vorgeschlagene Gesetz zu blockieren oder abzuschwächen. In Anbetracht des dramatischen Zustands unserer Ökosysteme und unserer Abhängigkeit von ihnen können wir Lippenbekenntnisse zur Natur jedoch nicht länger hinnehmen. Denn der Artenschwund droht außer Kontrolle zu geraten. Er beginnt, unsere Nahrungsmittelproduktion zu gefährden sowie unsere Fähigkeit, die schlimmsten Auswirkungen des Klimawandels abzuwehren.
Die Fraktion der Grünen/EFA im Europäischen Parlament setzt sich für ein starkes Gesetz ein, das das Leben in unsere Äcker und Wälder, Moore und Flüsse, Meere und Küsten zurückbringt – zum Wohl von Mensch und Natur.