Wir brauchen neue EU-Fiskalregeln. 2020 war ein Schlüsselmoment für Europas Wirtschaft. Um die größte Gesundheitskrise seit Jahrzehnten zu überstehen und das kollektive Wohlergehen aller zu sichern, setzte die Europäische Union ihre traditionellen Regeln für öffentliche Schulden und Defizite aus. Wir kamen durch die Pandemie, weil wir Lebensqualität und soziale Sicherheit über wirtschaftliche Prioritäten gestellt haben. Der Mensch und das gesundheitliche Wohlergehen hatten plötzlich Vorrang.
Als der russische Angriffskrieg begann, die Energiekrise eintrat und die Lebenshaltungskosten infolgedessen drastisch angestiegen sind, haben wir an der Aussetzung der Schuldenregeln festgehalten. Erneut haben wir das Wohl der Bürgerinnen und Bürger über Schuldenbremsen oder Defizitreduktion gestellt. In dieser Zeit wurde auch klar, wie dringend notwendig es ist, die grüne Transformation voranzutreiben, um eine Unabhängigkeit von fossilen Energieträgern herzustellen und durch Erneuerbare zu ersetzen – zum Schutz unserer Erde und zu unserem Schutz.
In all diesen Krisen konnten europäische Regierungen durch die Aussetzung der Schuldenregeln die soziale Sicherheit der Bürger*innen in den Fokus stellen, in unsere Zukunft investieren und in unsere dringend benötigten öffentlichen Infrastrukturen investieren. Es wurde deutlich, dass unsere Wirtschaften einige der schlimmsten Krisen überstehen können, wenn wir einen anderen Ansatz zu den Schuldenregeln der EU verfolgen.
Die EU-Fiskalregeln müssen geändert werden, um den Mitgliedstaaten die erforderlichen Mittel zu geben, in ihre grüne und soziale Transformation zu investieren.
Die Lektion sollte klar sein: Die EU-Fiskalregeln müssen geändert werden, um den Mitgliedstaaten die erforderlichen Mittel zu geben, in ihre grüne und soziale Transformation zu investieren. Obwohl Ökonomen, zivilgesellschaftliche Organisationen und Gewerkschaften sich weitgehend einig sind, dass eine reformierte Auslegung der Schuldenbremse und der EU-Fiskalregelungen die nötigen Investitionsmittel ermöglichen könnte, scheint der aktuelle Stand der Reform, der eine strenge Einhaltung der Schuldenregeln vorsieht, dieselben Probleme wie die früheren Regeln zu fördern.
Die neuen Haushaltsregeln, ein Schritt in die Vergangenheit?
Vor einigen Monaten stellte die Europäische Kommission die neuen Fiskalregeln für die Zukunft Europas vor. In den nächsten Wochen werden europäische Gesetzgeber*innen und Regierungen über eine Reihe von Gesetzen entscheiden, die entscheidend dafür sein könnten, ob wir die nötigen Mittel für die Zukunft zur Verfügung haben werden, oder ob Infrastruktur, Sozialleistungen und Umweltschutz schwerwiegende Kürzungen erleiden werden.
Kurz gesagt, die neuen Regeln erlauben es der EU einfach nicht, die Ziele einer grünen und gerechten Transformation zu erreichen. Diese Regeln priorisieren systematische Reduzierung der öffentlichen Verschuldung und zwingen Regierungen dazu, wichtige öffentliche Ausgaben zu kürzen, anstatt die massiven dringend nötigen Investitionen zu ermöglichen, die Europa jetzt braucht. Dies wird auf Kosten der grünen Transformation und künftiger Generationen gehen und die Sicherung der Lebensgrundlage für unsere Bürger*innen, um ein anständiges Leben zu führen. Das bedeutet, dass wir weiterhin auf fossile Brennstoffe angewiesen wären, da wir nicht in der Lage wären, sozial gerecht zu grüneren Energien zu wechseln. Menschen könnten so zum Beispiel keine Unterstützung zur Renovierung für gut isolierten und bezahlbaren Wohnraum erhalten, Krankenhäuser würden unterfinanziert bleiben und wissenschaftliche Forschung stagnieren.
Mit den neuen Haushaltsregeln wird die Wirtschaft Europas wieder in die Vergangenheit zurückgeworfen und anfälliger für neue Wirtschaftskrisen sein. Unser Ziel ist es, sowohl die grüne Transformation zu ermöglichen und auch soziale Ungleichheiten zu bekämpfen, ohne diese gegeneinander auszuspielen, nur um Defizitregeln einzuhalten.
Wer ist für die neuen Fiskalregeln?
Die vorgeschlagenen neuen Haushaltsregeln sind nicht nachhaltig. Dennoch glauben einige Länder und politische Parteien immer noch, dass dies der richtige Weg nach vorne und durch kommende Katastrophen ist. Die konservativen und sozialdemokratischen Parteien im Europäischen Parlament scheinen die Krise von 2008 und den dadurch verursachten Schaden vergessen zu haben, da sie nun kurz davor stehen, ein Modell zu unterstützen, das uns in genau diese Austerität zurückbringen wird. Leider versuchen auch die selbsternannten „sparsamen“ oder “frugal” Länder, ein ideologisches Programm zu verhängen, das auf der Idee beruht, dass, wenn Regierungen ihre Ausgaben kürzen, sie Schulden reduzieren und dann Steuern senken können. In der Praxis bedeutet dies: Investitionen in die Zukunft werden gekürzt, weil die Zukunft keine Lobby hat.
Investitionen und soziale Ausgaben zu kürzen, würde nicht nur der Zukunft schaden, sondern auch der Gegenwart. Der Europäische Gewerkschaftsbund (ETUC) veröffentlichte kürzlich einen Bericht, der den massiven Einfluss dieser Kürzungen aufzeigt, was sie als „austerity watch“ bezeichnen. Gewerkschaften warnen uns davor, wie viele Lehrer*innen oder Pflegepersonal wir mit diesen neuen Haushaltsregeln verlieren könnten. Es wäre so, als würden wir dem Pflegepersonal und Ärzt*innen für ihre Arbeit während der Pandemie danken, indem wir ihre Jobs streichen. Und wie würde die Situation dann in einer weiteren Gesundheitskrise mit der Hälfte der Pflegepersonals aussehen?
Konservative und sozialdemokratische Parteien wollen unsere Wirtschaften stabiler machen, indem sie an den Säulen, die unsere Gesellschaften zusammenhalten, kürzen. Das Zeitalter der Austerität und restriktiver Wirtschaftspolitik gehört der Vergangenheit an.
Wie können wir ein grünes und soziales Europa finanzieren?
Wir haben Alternativvorschläge zu den neuen Regeln vorgestellt. Kurz gesagt: Wir plädieren dafür, Verschuldung anders zu betrachten. Schulden, die durch Investitionen in fossile Brennstoffsubventionen entstehen, sollten nicht gleich behandelt werden wie Schulden, die durch Investitionen in die grüne Transformation entstehen. Die wirtschaftliche Situation und die Schuldenregeln eines europäischen Landes sollten nicht mehr genauso bewertet werden wie die eines anderen Mitgliedstaates mit ganz anderen Strukturen und Bedingungen. Zudem sollten wir die Möglichkeit haben, Schulden, die durch eine Investition in die Zukunft entstehen, über die Jahre der Nutzungsdauer der Investition zu verteilen. So wie bei einem Hypothekendarlehen, bei dem die Rückzahlung in monatlichen Raten erfolgt und nicht alles auf einmal gezahlt werden muss.
Wir sollten Schuldenaufnahmen durch eine positive Linse betrachten, was diese Investitionen letztendlich der Gesellschaft bringen werden, anstatt uns blind auf Schuldenprozentsätze zu konzentrieren.
Wir sollten Schuldenaufnahmen durch eine positive Linse betrachten, was diese Investitionen letztendlich der Gesellschaft bringen werden, anstatt uns blind auf Schuldenprozentsätze zu konzentrieren, ohne nach links und rechts zu schauen, wie wir dabei soziale und infrastrukturelle Investitionen vernachlässigen. Was zählt, ist, was wir mit den Investitionen machen. Eine höhere Verschuldung kurzfristig, um Häuser zu isolieren, Energierechnungen zu senken und neue Arbeitsplätze zu schaffen, ist eine Investition, die langfristig eine mehrfache Dividende bringt: für das Klima, für Haushalte und für Arbeitende. So bereiten wir uns auf die kommenden Herausforderungen vor, bauen eine widerstandsfähigere, wohlhabende und stabilere Wirtschaft auf. Eine, die tatsächlich in zukünftige Generationen investiert und nachhaltig die wahren Schuldenstände unserer Gesellschaft abbaut.
Verantwortung bedeutet, ‘Nein’ zur Austerität zu sagen
Die Zeit ist gekommen, verantwortungsvoll zu handeln. Als Grüne/EFA werden wir gegen die neuen EU-Fiskalregeln stimmen und Nein zur Austeritätspolitik sagen. Wir rufen unsere Kolleginnen und Kollegen anderer politischer Gruppen auf, uns bei der Ablehnung dieser Regeln zu unterstützen. Zusätzlich fordern wir die europäischen Regierungen auf, diese neue Reform zu überdenken und nicht übereilt zu Schuldenregeln zurückzukehren, die uns in das Zeitalter fossiler Brennstoffe, Klimakatastrophen und nicht nachhaltigen Lebensbedingungen zurückwerfen würden. Die Grünen werden auch am 12. Dezember auf den Straßen Brüssels zusammen mit den Gewerkschaften gegen eine Rückkehr zu Austeritätsregeln kämpfen. Die Vergangenheit ist da, um von ihr zu lernen, nicht, um zu ihr zurückzukehren. Wir werden nicht zulassen, dass unsere Zukunft durch wirtschaftliche Unverantwortlichkeit gefährdet wird.