Reisen, Arbeiten, Studieren in einem anderen EU-Land? Was für viele selbstverständlich scheint, ist es oft für Menschen mit Behinderungen nicht. Der EU-Behindertenausweis soll das jetzt ändern. Katrin Langensiepen ist Abgeordnete für die Grünen im Europaparlament, und eine der wenigen Abgeordneten mit einer Behinderung. In diesem Beitrag erklärt sie, was der EU-Behindertenausweis ist und warum er so ein großer Schritt für die Europäische Barrierefreiheit ist.
Was ist der EU-Behindertenausweis?
Die Anerkennung des Behindertenstatus und damit verbunden Leistungen, Hilfen oder Vergünstigungen hören oft an der Grenze zwischen zwei EU-Ländern auf.
Der neue EU-Behindertenausweis soll das ändern. Seit Jahren fordern wir Grünen im Europaparlament gemeinsam mit Aktivistinnen seine Einführung. Dieses Jahr hat die Europäische Kommission nun einen Gesetzesvorschlag dazu vorgelegt.
Unsere Vorgespräche haben sich gelohnt. Zumindest, was das Reisen eingeht, ist der Vorschlag der EU-Kommission ein Meilenstein.
Warum brauchen wir einen EU-Behindertenausweis?
Menschen mit Behinderung sollen im EU-Ausland arbeiten, studieren und ein Praktikum machen können, auch wenn sie auf Hilfe angewiesen sind.
Aber um in einem anderen Land Vorteilen, Assistenz oder Sozialleistungen in Anspruch zu nehmen, muss ich dort erstmal beweisen, dass ich eine Behinderung habe.
Es kann nicht sein, dass Menschen mit Behinderungen erst einen monatelangen, oft demütigen, nationalen Prüfungsprozess durchlaufen müssen, bevor sie entsprechende Hilfen, Assistenz oder angemessene Vorkehrungen am Arbeitsplatz in Anspruch nehmen können.
Das bedeutet im Umkehrschluss keine Spur von Flexibilität und Freizügigkeit.
Mehrere Menschen mit Behinderungen haben mich bereits kontaktiert und mir erzählt, dass sie auf Auslandsstudium oder Praktikum verzichten mussten – einfach aus dem Grund, dass sie sich nicht auf Hilfe vor Ort verlassen können, außer sie zahlen sie privat.
Verglichen zu Menschen ohne Behinderung ist das klare Diskriminierung. Bereits vor über 10 Jahren hat sich die EU zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention verpflichtet und damit auch zu EU-Freizügigkeit für alle.
Was ändert der EU-Behindertenausweis für Menschen mit Behinderung?
Der Richtlinienvorschlag sieht vor, dass Menschen mit Behinderungen für eine kurze Zeit von drei Monaten alle öffentlichen Vorteile in Anspruch nehmen können, die jeweils national gelten.
Damit wird es Menschen mit Behinderung leichter, in anderen EU-Ländern:
- Vergünstigungen im Kultur- und Tourismusbereich
- Vergünstigungen im (Nah-)verkehr für sich und ihre Assistenz
- Assistenzleistungen im Zug und öffentlichem Nahverkehr
wahrzunehmen.
Wenn es beispielsweise für eine Person mit Behinderungen in Frankreich so ist, dass sie keine Maut auf der Autobahn zahlen muss, gilt dies nun nicht nur für die Person aus Frankreich. Mit dem neuen EU-Behindertenausweis gilt dies genauso für Menschen mit Behinderungen aus Österreich, Polen oder Italien, die in Frankreich auf Reisen sind.
Der EU-Ausweis soll den nationalen Ausweis nicht ersetzen, sondern freiwillig ergänzen.
Bis jetzt soll der EU-Behindertenausweis vor allem das Reisen für Menschen mit Behinderungen vereinfachen. Der Anspruch auf Sozialleistungen ist im aktuellen Vorschlag der Kommission nicht inbegriffen.
Wie soll der neue EU-Behindertenausweis aussehen?
Der EU-Behindertenausweis soll in Karten- und Digitalform erhältlich sein und in der gesamten EU gelten und anerkannt werden. Er bietet damit gleichberechtigten Anspruch auf Hilfen für Menschen mit Behinderungen, egal welcher EU-Nationalität. Das ist der übergeordnete Gedanke Leitgedanke hinter dem EU-Behindertenausweis.
Doch schon jetzt zeigen sich einige EU-Mitgliedstaaten skeptisch. So fallen beispielsweise in Deutschland Argumente von “Inländer-Diskriminierung”, Umsetzungsaufwand und Mehrbelastung. Das bezieht sich beispielsweise auf den deutschen Nahverkehr, wo Vergünstigungen derzeit je nach Grad der Behinderungen unterschiedlich ausfallen. Menschen mit einem EU-Ausweis, der keinen Grad vorsieht, hätten damit einen “Vorteil”.
Jetzt ist nicht der Moment, sich in diesen national getriebenen Detail-Debatten zu verlieren. Bis jetzt soll der EU-Ausweis nur für einen begrenzten Zeitraum von drei Monaten am Stück gelten. Das ist ein sehr kurzer Zeitraum im Gegensatz zu Vorteilen, die für Inländer*innen viel länger gelten. Dabei wäre es das Mindestmaß an europäischer Solidarität, Menschen mit Behinderungen auf Reisen Vergünstigungen und Hilfen zu ermöglichen!
Die Grünen kämpfen weiter für einen EU-Behindertenausweis
Wir müssen alles daran setzen, dass der EU-Behindertenausweis noch in dieser Legislatur verabschiedet wird. Die EU-Mitgliedstaaten dürfen in den Verhandlungen mit Kommission und Parlament nicht in eine Blockadehaltung verfallen.
Umso wichtiger ist es, dass Menschen mit und ohne Behinderungen, sowie ihre NGOs sich mobilisieren und auch in ihren Mitgliedstaaten laut werden für einen EU-Behindertenausweis.
Wir appellieren an euch, die jeweilige Minister*innen für Menschen mit Behinderungen, aber auch Verkehr gezielt anzuschreiben.
Denn für uns Grüne im Europaparlament ist der EU-Behindertenausweis nur ein Start.
Der neue EU-Behindertenausweis wäre ein historischer Schritt für die Reisefreiheit von Menschen mit Behinderungen. Von echter Freizügigkeit sind wir damit aber immer noch weit entfernt.
Was kommt nach dem EU-Behindertenausweis?
Mit Blick auf die Zukunft fordern wir langfristig eine gemeinsame Definition von Behinderung, damit nationale Begutachtungen nicht mehr notwendig sind und auch Sozialleistungen in Anspruch genommen werden können.
Aber auch schon im jetzigen Gesetzentwurf versuchen wir Grünen bereits eine Zwischenlösung für Menschen mit Behinderungen zu finden, die sich für längere Zeit zwischen zwei EU-Mitgliedstaaten befinden. Wenn eine Person mit einer Behinderung ihren Wohnsitz wechselt, werden ihre Rechte und Sozialleistungen oft sofort eingestellt. Bis sie jedoch Anspruch auf Hilfen im anderen EU-Land bekommen, können Monate vergehen.
Deshalb fordern wir in den aktuellen Verhandlungen im Europaparlament, dass während eines laufenden Verfahrens der EU-Ausweis Vorrang hat und die nationalen Rechte erhalten bleiben sollen, bis ein neuer nationaler Ausweis ausgestellt wird. Wir sagen auch, dass dieser Prozess nicht länger als 6 Monate dauern sollte.
Außerdem möchten wir den Zeitraum der 3 Monate für Menschen, die Teil eines EU-Mobilitätsprogramms, wie zum Beispiel Erasmus, sind, verlängern. Wir fordern eine EU-Plattform mit Informationen und Übersichten zu den jeweiligen national geltenden Vorteile und Leistungen und wollen prüfen lassen, inwiefern der EU-Behindertenausweis in Zukunft zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit genutzt werden kann.
Der neue EU-Behindertenausweis ist eine Chance, Menschen mit Behinderungen endlich ihr Recht auf EU-Freizügigkeit zu garantieren. EU-Parlament, Kommission und Rat müssen sie gemeinsam nutzen und darauf aufbauen.
Die Zukunft ist barrierefrei, für alle.