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Politjustiz in Russland

Grüne/EFA Entschließungsantrag

 

Das Europäische Parlament,

–   unter Hinweis auf seine vorherigen Entschließungen zu Russland,

–   unter Hinweis auf den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte, dessen Vertragspartei Russland seit 1973 ist, und insbesondere dessen Artikel 14, in dem es heißt, dass „[j]edermann [...] Anspruch darauf [hat], dass [über eine gegen ihn erhobene strafrechtliche Anklage oder seine zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen] durch ein zuständiges, unabhängiges, unparteiisches und auf Gesetz beruhendes Gericht in billiger Weise und öffentlich verhandelt wird“,

–   unter Hinweis auf die Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, deren Vertragspartei Russland seit 1998 ist, und insbesondere deren Artikel 6, in dem es in ähnlicher Weise heißt, dass „[j]edermann [...] Anspruch darauf [hat], dass seine Sache in billiger Weise öffentlich und innerhalb einer angemessenen Frist gehört wird, und zwar von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht“,

–   unter Hinweis auf die Verfassung Russlands, insbesondere auf deren Artikel 118, in dem es heißt, dass die Rechtsprechung in der Russischen Föderation nur durch Gerichte ausgeübt wird, und auf deren Artikel 120, in dem es heißt, dass die Richter unabhängig und nur der Verfassung der Russischen Föderation und dem Föderationsgesetz unterworfen sind,

–   unter Hinweis auf die gerichtliche Entscheidung des Moskauer Bezirksgerichts Chamowniki vom 17.August 2012, mit der die Mitglieder der Frauen-Punkband „Pussy Riot“ zu zwei Jahren Haft aufgrund von Rowdytum verurteilt werden;

–   unter Hinweis auf die Erklärung der Hohen Vertreterin der Union für Außen- und Sicherheitspolitik und Vizepräsidentin der Kommission Catherine Ashton zur Verurteilung von Mitgliedern der Punkband „Pussy Riot“ in Russland vom 17. August 2012,

–   unter Hinweis auf die Forderung des russischen Generalstaatsanwalts, über die vorzeitige Absetzung des Mitglieds der Partei „Gerechtes Russland“, Gennadi Gudkow, am 12. September 2012 abzustimmen,

–   gestützt auf Artikel 110 Absatz 2 seiner Geschäftsordnung,

A. in der Erwägung, dass sich die Russische Föderation als Vollmitglied des Europarates und der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa zu den Grundsätzen der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit und der Achtung der Menschenrechte bekannt hat; in der Erwägung, dass aufgrund mehrerer schwerwiegender Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit und der Annahme restriktiver Gesetze in den letzten Monaten zunehmend Zweifel daran bestehen, dass Russland seinen internationalen und nationalen Verpflichtungen nachkommt;

B.  in der Erwägung, dass Untersuchungen von Menschenrechtsverstößen häufig ineffizient sind, Mängel aufweisen und mit Straflosigkeit enden; in der Erwägung, dass die fehlende Transparenz von Verwaltungsakten Missbrauch in großem Stil ermöglicht;

C. in der Erwägung, dass der Tod von Anna Politkowskaja, Natalja Estemirowa, Anastassija Baburowa, Stanislaw Markelow und Sergei Magnitski bisher nicht aufgeklärt wurde;

D. in der Erwägung, dass Michail Chodorkowski und sein Geschäftspartner Platon Lebedew am 30. Dezember 2010 aufgrund von Veruntreuung vom Moskauer Bezirksgerichts Chamowniki schuldig gesprochen wurden; in der Erwägung, dass die Strafverfolgung, der Prozess und das Urteil international als politisch motiviert galten; in der Erwägung, dass die Einmischung und die Ausübung von Druck durch die Politik von der internationalen Gemeinschaft heftig kritisiert wurden;

E.  in der Erwägung, dass die oben genannten Fälle sowie die Verfolgung von Oppositionsführern die Glaubwürdigkeit der Justiz schmälern und ihre Unabhängigkeit infrage stellen;

F.  in der Erwägung, dass dem früheren Präsidenten der Russischen Föderation Dmitri Medwedew eine Liste mit 39 Namen von Personen, die von der politischen Opposition und weiten Teilen der Zivilgesellschaft als politische Gefangene angesehen werden, mit der Forderung nach ihrer sofortigen Freilassung übergeben wurde;

G. in der Erwägung, dass die anhaltende Einschüchterung und Schikanierung sowie die Festnahmen von Vertretern der Oppositionskräfte und von nichtstaatlichen Organisationen, die jüngste Annahme eines Gesetzes über die Finanzierung von nichtstaatlichen Organisationen und über die Versammlungsfreiheit, das Gesetz über Verleumdung, das Gesetz über Einschränkungen des Internet sowie der zunehmende Druck auf freie und unabhängige Medien und Personen, die aufgrund ihrer sexuellen Ausrichtung oder ihres Glauben einer Minderheit angehören, zu einer weiteren Verschlechterung der Menschenrechtslage und der Achtung der demokratischen Grundsätze in Russland geführt haben;

H. in der Erwägung, dass diese neuen oder geänderten Gesetze von einer zum Teil unrechtmäßigen Staatsduma angenommen wurden, deren Wahl weder frei noch gerecht war, wie die OSZE-Beobachtungsmission und das Europäische Parlament festgestellt haben;

I.   in der Erwägung, dass das Moskauer Bezirksgericht Chamowniki drei Aktivistinnen der Frauen-Punkband „Pussy Riot“ am 17.August 2012 zu zwei Jahren Haft verurteilt hat, nachdem es sie des durch religiösen Hass motivierten Rowdytums im Februar 2012 in der Moskauer Erlöser-Kathedrale für schuldig befunden hat;

J.   in der Erwägung, dass die Duma am 12. September 2012 darüber abstimmen wird, ob die Immunität von Gennadi Gudkow aufgehoben wird und Gudkow aufgrund von Geschäftstätigkeiten während seines Mandats in Verstoß gegen Artikel 289 des russischen Strafgesetzes seines Amtes enthoben wird; in der Erwägung, dass im Interesse der Rechtsstaatlichkeit Vorschriften über die Korruptionsbekämpfung für alle Mitglieder der Duma gleich und unparteiisch gelten sollten; in der Erwägung, dass gegen andere Mitglieder der Fraktion „Gerechtes Russland“ wie Dmitri Gudkow und Ilja Ponomarjow ähnliche Anklagen erhoben wurden;

K. in der Erwägung, dass soeben die Ausarbeitung eines neuen Föderationsgesetzes in Angriff genommen wurde, das es der Duma ermöglichen würde, Mitglieder, die gegen ethische Standards verstoßen oder die Duma oder die Regierung diskreditieren könnten, ohne formelle gerichtliche Anordnung auszuschließen;

L.  in der Erwägung, dass der Fall Sergei Magnitski nur einer von mehreren Fällen von Machtmissbrauch durch die russischen Strafverfolgungsbehörden ist, die in erheblichem Maße gegen den Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit verstoßen, wobei die Verantwortlichen für den Tod von Magnitski nach wie vor Straffreiheit genießen; in der Erwägung, dass auch in zahlreichen anderen Gerichtsverfahren politisch konstruierte Gründe vorgeschoben werden, um politische Konkurrenten auszuschalten und die Zivilgesellschaft einzuschränken;

M. in der Erwägung, dass das russische Gesetz über extremistische Aktivitäten häufig zur Verfolgung von Menschenrechtsaktivisten, politischen Gegnern und religiösen Gruppen missbraucht wird; in der Erwägung, dass das Gesetz in seinem Wortlaut und Inhalt vage ist, wie die Venedig-Kommission des Europarates kritisiert hat, und dass es willkürlich eingesetzt wird;

N. in der Erwägung, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Russische Föderation in mehr als 150 Urteilen wegen schwerer Menschenrechtsverletzungen verurteilt hat; in der Erwägung, dass die Urteile des EGMR nicht umgesetzt wurden; in der Erwägung, dass die Verantwortung für das Versäumnis, die Urteile umzusetzen, zum Großteil bei den Justizorganen und -behörden liegt;

O. in der Erwägung, dass die Justiz- und Strafverfolgungsorgane der allgegenwärtigen Straffreiheit für Menschenrechtsverletzungen im Nordkaukasus nicht Einhalt geboten haben; in der Erwägung, dass in Bezug auf die schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen, die Angriffe, die Morde, das Verschwindenlassen von Personen und die Fälle von Misshandlung und willkürlicher Festnahme in einigen Teilen des Nordkaukasus kein Rechtsbehelf existiert;

1.  ist der Auffassung, dass Russland als Mitglied des Europarates und der Organisation für Frieden und Zusammenarbeit in Europa den Verpflichtungen, die es eingegangen ist, umfassend nachkommen muss; stellt fest, dass die jüngsten Entwicklungen in eine Richtung gehen, die den notwendigen Reformen für die Verbesserung der demokratischen Standards und der Rechtsstaatlichkeit und der Unabhängigkeit der Justiz in Russland entgegengesetzt ist;

2.  weist darauf hin, dass der frühere Präsident Medwedew eine Arbeitsgruppe eingesetzt hat, die die Reform des Wahlsystems, die Verbesserung der Rechtsstaatlichkeit und die Achtung der Grundrechte in Russland prüfen sollte; weist darauf hin, dass das Europäische Parlament die russische Regierung aufgefordert hat, diese Reformen durchzuführen, und stets die Unterstützung durch die EU angeboten hat, auch im Rahmen der Partnerschaft für Modernisierung;

3.  fordert in diesem Zusammenhang die russischen Behörden auf, die Venedig-Kommission des Europarates zu ersuchen, die neuen russischen Gesetze zur Einschränkung der Meinungsfreiheit, der Versammlungsfreiheit, des aktiven und passiven Wahlrechts sowie des Rechts auf Schutz vor willkürlichen und unfairen Anklagen im Hinblick auf ihre Vereinbarkeit mit europäischen Standards zu überprüfen;

4.  verleiht seiner Besorgnis über das verschlechterte Klima für die Entwicklung der Zivilgesellschaft in Russland Ausdruck, insbesondere im Hinblick auf die jüngste Annahme einer Reihe von Gesetzen über Demonstrationen, nichtstaatliche Organisationen, Verleumdung und das Internet, die missverständliche Bestimmungen enthalten und zu einer willkürlichen Durchsetzung führen könnten; erinnert die russischen Behörden daran, dass eine moderne und wohlhabende Gesellschaft die individuellen und kollektiven Rechte aller ihrer Bürger anerkennen und schützen muss;

5.  fordert die zuständigen russischen Stellen in diesem Zusammenhang auf, die neuen Gesetze über nichtstaatliche Organisationen abzuändern, um Bürgervereinigungen, die finanzielle Unterstützung aus angesehenen ausländischen Fonds erhalten, vor politischer Verfolgung zu schützen;

6.  ist zutiefst enttäuscht über das Urteil des russischen Bezirksgerichts Chamowniki vom 17. August 2012 im Fall der Mitglieder der Punkband „Pussy Riot“ Nadeschda Tolokonnikowa, Marija Aljochina und Jekaterina Samuzewitsch, die aufgrund „religiös motivierten Rowdytums“ zu zwei Jahren Strafkolonie verurteilt wurden; ist der Ansicht, dass dieses Urteil Ausdruck des unnachgiebigen Vorgehens gegen politische Dissidenten und Oppositionskräfte ist, das den demokratischen Raum in Russland noch weiter einschränkt und die Glaubwürdigkeit der russischen Justiz erheblich schmälert; verurteilt dieses politisch motivierte Urteil ausdrücklich und erwartet, dass dieser Schuldspruch in der Berufung aufgehoben wird und die drei Mitglieder von „Pussy Riot“ aus der Haft entlassen werden;

7.  verurteilt die Festnahme von Demonstranten im Zusammenhang mit dem „Pussy-Riot“-Prozess, unter anderem auch von Mitgliedern der Opposition und Journalisten, sowie den übermäßigen Einsatz von Untersuchungshaft gegen Teilnehmer an der Demonstration auf dem Bolotnaja-Platz vom 6. Mai und fordert die russischen staatlichen Stellen auf, die Versammlungs- und Meinungsfreiheit zu achten;

8.  begrüßt die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs vom 25. Juli 2012, sowohl den Fall Chodorkowski als auch den Fall Lebedew gemäß der Empfehlung der Präsidialkommission zu den Menschenrechten vom Dezember 2011 zu überprüfen; nimmt die Verkürzung der Strafe von Herrn Lebedew um drei Jahre zur Kenntnis; fordert, dass die umfassende Überprüfung der beiden Fällen auf der Grundlage der Verpflichtung Russlands zu fairen und transparenten Gerichtsverfahren fortgesetzt wird;

9.  nimmt den Antrag des Generalstaatsanwalts zur Kenntnis, über die vorzeitige Beendigung der Befugnisse des Dumamitglieds Gennadi Gudkow aufgrund von Geschäftstätigkeiten während seines parlamentarischen Mandats unter Verstoß gegen Artikel 289 des russischen Strafgesetzes abzustimmen; fordert Russland auf, Gesetze nicht willkürlich anzuwenden, um gegen Mitglieder der Opposition vorzugehen;

10. ist schockiert über die Verurteilung der Aktivistin der Partei „Anderes Russland“ Taissija Ossipowa zu acht Jahren Haft aufgrund von Drogenbesitz, obwohl es während des Gerichtsverfahrens zu besorgniserregenden Unregelmäßigkeiten gekommen ist und der frühere Präsident Medwedew die erste Verurteilung im Jahr 2010 zu zehn Jahren als zu hart kritisiert hat; weist darauf hin, dass mehrere andere Fälle gegen oppositionelle Aktivisten Anlass zu starken Bedenken geben, einschließlich der Verfolgung des oppositionellen Aktivisten Alexei Nawalny, der unter Umständen zu bis zu zehn Jahren Haft verurteilt wird, wenn er der Beteiligung an einem Diebstahl von Brennholz im Wert von 16 Mio. Rubel schuldig gesprochen wird, sowie einschließlich des Falls von Garri Kasparow und des neuen Strafverfahrens gegen Suren Gasarjan;

11. bedauert den willkürlichen Einsatz des Gesetzes über homosexuelle Propaganda, das in acht Regionen eingeführt wurde, gegen Angehörige der LGBT-Minderheit und die Verfolgung und Schikanierung religiöser Minderheiten wie die Zeugen Jehovas und Falun Gong unter dem Vorwand des Extremismus;

12. stellt fest, dass diese Fälle Ausdruck der Zunahme politisch motivierter Einschüchterung und Verfolgung von Oppositionsaktivisten in Russland sind; fordert den Rat auf, einen umfassenden und vorausschauenden Ansatz im Zusammenhang mit den Menschenrechtsverletzungen in Russland zu verfolgen und im Einzelfall zu bewerten, ob als letztes Mittel restriktive Maßnahmen gegen die Verantwortlichen getroffen werden müssen, wenn klare Beweise für einen Verstoß bzw. ein Verbrechen vorliegen;

13. fordert Russland auf, seinen derzeitigen Kurs zu korrigieren, sich wieder seiner internationalen Verpflichtungen zu besinnen und sich ernsthaft um die Verbesserung der Unabhängigkeit seiner Justiz und um Rechtsstaatlichkeit zu bemühen;

14. beauftragt seinen Präsidenten, diese Entschließung dem Rat, der Kommission, den Regierungen und Parlamenten der Mitgliedstaaten, der Regierung und dem Parlament der Russischen Föderation, dem Europarat und der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa zu übermitteln.

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