Kein Ausweg aus der Krise ohne gemeinsame Wirtschaftspolitik (economic governance) auf europäischer Ebene
Hintergrundpapier von Dany Cohn Bendit, Philippe Lamberts, Pascal Canfin und Sven Giegold
Nach mehreren Monaten der Unentschlossenheit haben die führenden europäischen Politiker und die Europäische Zentralbank (EZB) endlich in der Nacht von Sonntag, den 9. Mai, auf Montag, den 10. Mai die Umsetzung eines umfangreichen Plans zur Rettung der Eurozone beschlossen. Parallel dazu hat die Kommission am Mittwoch, den 12. Mai, Vorschläge für eine stärkere haushaltspolitische Überwachung der Mitgliedstaaten vorgestellt.
Diese beiden Schritte stellen uns vor einige Probleme. Zum einen reagieren sie auf das Problem der Verschuldung mit einer weiteren Verschuldung, während sie sich auf eine drastische Kürzung der öffentlichen Ausgaben konzentrieren, die wiederum mit der Gefahr verbunden ist, die sozialen Folgen der Wirtschaftskrise zu verschärfen und die EU (erneut) in die Rezession zu stürzen. Diese Schritte sind jedoch auch willkommen, unter der Voraussetzung, dass sie die Keimzelle für eine echte gemeinsame Wirtschaftspolitik bilden, der fehlenden politischen Säule der Wirtschafts- und Währungsunion. Für die europäischen Grünen muss diese Politik auf fünf Säulen gestützt sein:
- Verantwortungsvolle öffentliche Ausgaben, was nachhaltige Rahmenbedingungen für öffentliche Ausgaben und eine verstärkte Überwachung der makroökonomischen Entwicklungen und damit eine Reform des Stabilitäts- und Wachstumspaktes impliziert, um über die bloßen Indikatoren der Defizite und der öffentlichen Verschuldung hinaus eine breitere Palette von Indikatoren der makroökonomischen Nachhaltigkeit zu nutzen. Neben den Indikatoren der Ausgaben und der öffentlichen Verschuldung bieten andere Indikatoren wie die private Verschuldung, die Leistungsbilanz und die realen Wechselkurse ein umfassenderes Bild von den internen und externen Ungleichgewichten der Mitgliedstaaten. Dadurch erlauben sie, besser informierte und koordinierte Präventiv- und Korrekturmaßnahmen in Gang zu setzen, die sowohl die defizitären als auch die Überschussländer betreffen. Verantwortungsvolle öffentliche Ausgaben, das sind auch Ausgaben (einschließlich der Ausgaben auf europäischer Ebene), die auf die Ziele der ökologischen Nachhaltigkeit und der sozialen Kohäsion ausgerichtet sind.
- Eine steuerliche Harmonisierung: Wenn ausgeglichene öffentliche Finanzen eine Voraussetzung für wirtschaftliche Stabilität sind, darf man sich nicht, wie es sowohl die Kommission als auch die EZB tun, darauf beschränken, nur die Ausgabenseite in Auge zu fassen: Die Einnahmenseite ist genauso wichtig. Ob es sich um die Besteuerung der Unternehmensgewinne (insbesondere von multinationalen Unternehmen), die Einführung einer Finanztransaktionssteuer, eine Sonderabgabe des Bankensektors (bank levy) oder auch um die Bekämpfung der Steuerhinterziehung handelt - nur ein gemeinsames Vorgehen wird jedem der 27 Mitgliedstaaten die Möglichkeit bieten, an seine Politik der Sicherung des sozialen Zusammenhangs anzuknüpfen.
- Eine strenge Regulierung der Finanzmärkte: Es ist unerlässlich, den Finanzsektor wieder zu seiner ursprünglichen Aufgabe zurückzuführen, nämlich die Entwicklung der Realwirtschaft zu unterstützen. Das Europäische Parlament hat soeben mit Unterstützung der vier größten Fraktionen das Paket zur Finanzaufsicht verabschiedet; jetzt ist es an der Zeit, dass der Rat damit aufhört, jede ernsthafte Regulierung zu verhindern, und sich dem gemeinsamen Standpunkt des Parlaments anschließt. Darüber hinaus ist es unentbehrlich, die stabilitätsgefährdenden Wirkungen der Finanzspekulation zu begrenzen. Kurzfristig können mehrere Maßnahmen dazu beitragen, etwa das Verbot des Verkaufs von Credit Default Swaps, die mit Staatsanleihen spekulieren, die Einführung der bereits erwähnten Finanztransaktionssteuer und einer Bankenabgabe, die die Fähigkeit der Banken einschränken würde, sich zu verschulden, um ihre Spekulationsgeschäfte zu finanzieren.
- Höhere Eigenmittel für die EU: Festzustellen ist, dass die Fundamentaldaten der EU mit einem Haushaltsdefizit von 6% des BIP, einem Gesamtbestand der öffentlichen Schulden von 88,5% des BIP, die zum größten Teil von den Europäern selbst gehalten werden, insgesamt gesehen besser dastehen als die der USA (98% beziehungsweise 10%, wobei die Schulden zur Hälfte von Gebietsfremden, darunter China, gehalten werden). Das bedeutet, dass die EU als Akteur gegenüber den Märkten über ein großes Potenzial an Glaubwürdigkeit verfügt. Es scheint naheliegend, dass die EU im gemeinsamen Interesse der Mitgliedstaaten über einen höheren Haushalt, der aus Eigenmitteln gespeist wird (Steuermittel und Kreditaufnahmefähigkeit, die berühmten Euro-Anleihen), verfügen sollte, den sie in den Dienst der gemeinsamen Ziele, insbesondere ihrer Strategie Europa 2020 stellen sollte.
- Die Einführung eines europäischen Green New Deal: Diese Strategie Europa 2020 muss in der Tat die Gelegenheit bieten, Europa an die Spitze der nachhaltigen Umwandlung unseres Entwicklungsmodells zu setzen. Die beiden Herausforderungen des 21. Jahrhunderts bestehen darin, das Entwicklungsmodell mit den physikalischen Grenzen des Planeten (Klima und Ausschöpfung der natürlichen Ressourcen) zu versöhnen und innerhalb und zwischen unseren Gesellschaften soziale Gerechtigkeit zu gewährleisten. Die Finanzkrise, die wir gerade erleben, kann diese Herausforderungen nicht verschleiern; darauf zu reagieren, stellt nicht nur eine Verpflichtung, sondern obendrein eine Chance dar: Hier liegt die Quelle für Arbeitsplätze dieses Jahrhunderts.Dieser Grüne New Deal müsste nicht nur durch eine Erhöhung des europäischen Haushalts, sondern auch durch die Vergabe zinsloser Kredite der Europäischen Investitionsbank (EIB) an die Akteure dieses ökologischen Wandels (insbesondere die lokalen Körperschaften) finanziert werden.Dies setzt zunächst voraus, dass die EIB zur Finanzierung eines solchen Vorhabens in der Lage sein muss, sich zum Nullsatz bei der Europäischen Zentralbank zu refinanzieren.
Nur die Umsetzung dieser fünf Säulen kann der Europäischen Union einen Ausweg aus der Krise nach oben garantieren und ihre Entwicklung auf ein stabiles Fundament setzen. Wenn nur eine von ihnen fehlt, gerät das gesamte Gebäude ins Wanken. Diese gemeinsame Wirtschaftspolitik ist kein Hirngespinst: Für jede der fünf Säulen wurden bereits Baustellen eröffnet; häufig mangelt es ihnen aber an Ehrgeiz oder Schnelligkeit. Es ist höchste Zeit, politische Entschlossenheit zu zeigen und das Tempo ihrer Umsetzung zu erhöhen.
Nachdem sie eine umfangreiche Integration ihrer Märkte umgesetzt haben, stehen die Europäer und ihre Politiker jetzt vor einer einfachen, aber entscheidenden Wahl: Wenn sie ihr gemeinsames Schicksal in die Hand nehmen und einer halben Milliarde Europäer eine Zukunft geben wollen, die ihrem Potenzial entspricht, gibt es keinen anderen Weg als eine vertiefte und beschleunigte politische Integration.
Dany Cohn-Bendit
Co-Fraktionsvorsitzender der Fraktion GR/ALE im Europäischen Parlament
Philippe Lamberts
Europabgeordneter der Partei Ecolo (B), Co-Vorsitzender der europäischen grünen Partei
Pascal Canfin
Europaabgeordneter, Europe Ecologie (F)
Sven Giegold
Europaabgeordneter, Bündnis 90/Die Grünen (D)